Blog | Darf ein nachhaltiger Tourismus wachsen? - Vitalpin Tourismus-Podcast #2

Darf ein nachhaltiger Tourismus wachsen? - Vitalpin Tourismus-Podcast #2

Darf ein nachhaltiger Tourismus wachsen? - Vitalpin Tourismus-Podcast #2
Vitalpin 16. August 2021

Zukunftstaugliches Wachstum: Zwischen Nachhaltigkeit und steigender Reiselust

Darf ein nachhaltiger Tourismus wachsen? Darüber und über viele andere spannende Fragen diskutierte Vitalpin Geschäftsführerin Theresa Haid mit Prof. Dr. Stefan Gössling in der zweiten Folge unseres Tourismus-Podcasts „Be/r\gegnungen“.

Wir haben interessante Aspekte des Gesprächs in diesem Blogbeitrag zusammengefasst und liefern Antworten auf Fragen wie: Ist der viel beschworene sanfte Tourismus die Lösung und die Antwort auf aktuelle Herausforderungen im alpinen Tourismus? Wie sinnvoll und vertrauenswürdig sind CO2-Kompensationen? Wie damit umgehen, wenn zu viele Gäste kommen und es zu Overtourism-Effekten kommt? Gibt es Overtourism überhaupt in den Alpen?

Ein Gespräch, das neue Sichtweisen eröffnet und brisante Themen ausführlich beleuchtet und diskutiert.

Sie wollen das Gespräch lieber anhören?

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Ist der sanfte Tourismus das Heilmittel für den alpinen Raum?

Der sanfte Tourismus ein Konzept der 80er-Jahre. Der Schweizer Josef Krippendorf wies damals darauf hin, dass Großteile des Alpenraums überbaut werden - mit allen bekannten negativen Folgen und Auswirkungen. Seither hat sich die Planungsgrundlage verändert - es gibt zahlreiche Gesetze und Kontrollen, die überschießende Entwicklungen unterbinden.

Was damals eine wichtige Forderung war, sei aber immer relativ zu betrachten und heute ein überkommenes Konzept, das unserer Lebensrealität nicht mehr gerecht werde, analysiert Gössling.

Und weil auch sanfte Aktivitäten eine Anreise erfordern, fordert auch Theresa Haid neue Konzepte. „Ein Ansturm, um sanfte Aktivitäten wie Rodeln oder Skitouren auszuüben, ist eben auch ein Ansturm. Es braucht eine gesteuerte Kanalisation und Verteilung des Tourismus.“

 

Wenn das Konzept des sanften Tourismus also nicht mehr die zeitgemäße Antwort ist, was braucht es dann? Der große neue Imperativ muss nach Gössling das Bestreben sein, bis 2050 das Null-Emissionen-Ziel der Vereinten Nationen zu erreichen, um den Tourismus klimafreundlich aufzustellen.

 

Emissionen kompensieren: Greenwashing und Gewissensberuhigung ohne Schlagkraft?

Wenn ein Unternehmen seine Prozesse klimafreundlich umgestaltet, bleiben am Ende trotzdem Emissionen übrig, die sich nicht vermeiden lassen. Um diese auszugleichen oder zu kompensieren, unterstützen Unternehmen internationale Klimaschutzprojekte mit dem Ziel, nicht vermeidbare CO2-Emissionen an anderer Stelle auszugleichen. Diese Praxis ist ein Baustein von vielen im betrieblichen Klimaschutz. Ein umstrittener, wie ein Blick in die Medien zeigt.

Woran liegt das? Einen Grund sieht Theresa Haid im fehlenden Vertrauen. Und zwar in doppelter Hinsicht:

 „Es fehlt das Vertrauen in die Sinnhaftigkeit der Kompensationsmöglichkeiten und es fehlt das Vertrauen, dass Betriebe tatsächlich ernsthaft bemüht sind, ihren Klimafußabdruck möglichst gering zu halten.“

Der Vorwurf des Greenwashings wird allzu schnell bemüht. Wie damit umgehen?

Stefan Gössling ist der Ansicht: „Es braucht mehr Information, um Vertrauen zu bilden! In Zukunft wird es wichtig sein, mehr über die Möglichkeiten und Sinnhaftigkeit der Kompensation aufzuklären und damit Klimaschutzprojekte zu fördern, die gute Arbeit leisten. Nur so kann sinnvoll kompensiert werden und das Vertrauen in eine Praxis wachsen, die ein notwendiger Bestandteil im betrieblichen Klimaschutz ist.“

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Der Tourismus wird weiterwachsen. Wollen wir das?

Reisen ist ein Grundbedürfnis von Menschen der westlichen Industriegesellschaft und steht für eine Lebensqualität, die sich der Einzelne nicht nehmen lassen wird. Laut dem Experten wird der Tourismus in Nord- und Mitteleuropa besonders deshalb weiterwachsen, weil er eines biete, das andere Regionen nicht bieten können: Sicherheit. Sicherheit ist ein wichtiger Joker der Reiseanbieter und das nicht erst seit Corona. Verantwortlich dafür sind problematische Entwicklungen in vielen Ländern.

Die Frage lautet nach Gössling jedenfalls nicht, ob Wachstum stattfinden darf, sondern wo und wie es stattfinden soll. Wenn Wachstum zu schnell voranschreitet, dann häufen sich die Konflikte.

Prof. Dr. Stefan Gössling

Prof. Dr. Stefan Gössling

„Die Aufgabe wird auch sein, das Wachstum dem Ziel der „Null Emissionen bis 2050“ zu unterstellen – beim Verkehr, Bau, der Infrastruktur und der Weise, wie gewirtschaftet wird.“

Wachstum ist dann positiv zu bewerten, wenn es gesteuert ist und wenn viele davon profitieren. Gössling zitiert dazu Bernie Sanders, der im US-Wahlkampf die Frage stellte: Was ist der Nutzen von Wachstum, wenn 99 % dieses Wachstums an 1 % der Bevölkerung gehen? Die Verteilungseffekte sollten vermehrt gefördert werden, sodass lokale kleine Anbieter bis hin zum Bauern profitieren.

Vom alpinen Tourismus profitieren viele

Im alpinen Tourismus gibt es nach Haid einen starken Trend zur Regionalität und damit eine breite Umverteilung und Wertschöpfung.

Theresa Haid

Theresa Haid

„Die Verteilungseffekte sind in Studien gut belegt und zeigen, dass die Gelder nicht in den touristischen Hochburgen bleiben, sondern in die Städte fließen, die viele Vorleistungen für den Tourismus erbringen.“

Das neue Wachstum: nachhaltige Urlaubsangebote ausbauen

Die Herausforderung besteht darin, die nachhaltigen Urlaubsangebote auszubauen und dort zu entwickeln, wo Wachstum tatsächlich auch gewünscht wird.

 „Wir müssen genau überlegen, wie wir dieses Wachstum strukturieren wollen, es aktiv steuern und managen, sodass keine Übertourismus-Effekte entstehen, die wir in der Vergangenheit hatten.“

Zukünftig hält es Gössling für wichtig, das Geld noch mehr in den Destinationen zu halten – besonders im Blick auf die Buchungsplattformen, die bis zu 18 % der Umsätze aus der Region abziehen. Diesen Abfluss der Gelder gibt es auch an anderer Stelle, das müsse man angehen.

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Übertourismus: Bedrohung für Einheimische, Abschreckung für Gäste und Balanceakt für Destinationen

Übertourismus oder Overtourism ist ein Thema, das Destinationen international beschäftigt. Wissenschaftliche Versuche, Overtourism zu messen, gestalten sich als sehr schwierig, auch weil das Empfinden, wann etwas zu viel ist, subjektiv verschieden ist und es auch darauf ankommt, wie schnell eine Entwicklung voranschreitet. Um die Debatte werden die Destinationen jedenfalls auch in Zukunft nicht herumkommen. Gössling sagt:

 „Im Prinzip geht es immer um Platzverlust und das Gefühl von Verlust über die Kontrolle eines Ortes, den man kennt, und den man in einer bestimmten Konstellation liebt und der nun verändert wird durch Menschen, die von außen kommen und die möglicherweise viele negative Effekte damit auslösen, die einfach dazu führen, dass eine größere Anzahl von Einheimischen, sich diesen Tourismus nicht mehr wünscht.“

Aus Sicht des Experten gibt es zwei Perspektiven, die berücksichtigt werden müssen. Die der Gäste, für die die Attraktivität der Destination mit dem Gedränge schwindet und – viel wichtiger – die der Einheimischen, die den Besucherdruck ertragen müssen, oft ohne (wissentlich) davon zu profitieren. Denn ein Profitieren gibt es sehr wohl durch die Infrastruktur und das öffentliche Verkehrsnetz, das ohne die Gäste nicht finanzierbar wäre, betont Haid.

Nach dem Tourismusprofessor ist das Finden des rechten Maßes für die Destinationen immer wieder ein Balance-Akt. Dabei müsse man schauen, wo aus welchen Gründen Widerstände gegen den Tourismus aufkommen und wie man diese auffangen könne.

„Man sollte nie zu viele Leute vor den Kopf stoßen, im Gegenteil, man sollte wirklich daran arbeiten, diese kritischen Meinungen aufzunehmen, und zu versuchen, dort Lösungen zu finden. Dafür stehen zahlreiche Managementstrategien zur Verfügung, mit deren Hilfe man die Konflikte reduzieren und vermeiden kann. Daran müssten in Zukunft wahrscheinlich auch mehr Destinationen stärker arbeiten.“

Qualitative Messgrößen im Tourismus

Das neue Tiroler Tourismuskonzept sieht es vor, vermehrt quantitative Messgrößen heranzuziehen, um zu beurteilen, wie erfolgreich der Tourismus ist. Konkret bedeute das, dass man nicht mehr rein den Umsatz betrachtet, sondern auch Indikatoren miteinbezieht, die beschreiben, wie sich ein System entwickelt. Was sagt der Experte dazu? Gössling hält es für sinnvoll, die quantitativen Messgrößen um qualitative zu erweitern, betont aber, dass auch hinter diesen Zahlen stehen müssen. Auch plädiert er dafür, die quantitativen Messgrößen neu zu denken.

Gössling: „Beispielsweise ist das grundsätzliche Konzept des Umsatzes für mich kein gutes, weil es wichtig ist, wie viel Gewinn übrig bleibt und wie sich dieses Geld innerhalb einer Bevölkerung verteilt. Das wäre für mich eine deutlich sinnvollere Messgröße.“  

Auch sollen Destinationen vom reinen Volumenwachstum abrücken und vielmehr überlegen, welche Gäste gut in die eigene Destination passen. Dabei gehe es nicht um eine Verurteilung, sondern um eine offene Debatte über kulturelle Effekte, die nach Gössling „weder negativ oder positiv zu werten sind“, aber einen bestimmten Umgang erfordern und möglicherweise Spannungen auslösen. „Wenn man über diese Effekte Bescheid weiß, kann man auch Konflikte minimieren“, so der Experte.

3 Gründe, warum nachhaltiges Wirtschaften der Schlüssel zum Erfolg werden wird

1.

Gäste haben ständig wachsende und wechselnde Erwartungshaltungen. Aktuell erleben wir einen sozialen Normenwandel, Menschen interessieren sich mehr für Umweltfragen. Diese Erwartungshaltungen sollen Betriebe einerseits ernst nehmen und andererseits positiv kommunizieren, welchen Beitrag sie bereits leisten.

 

2.

Wir werden in vielen Bereichen in den nächsten Jahren politische Veränderung sehen. Den Klimawandel werden wir nur lösen, wenn Energie teurer wird. Wenn wir uns jetzt schon darauf einlassen, investieren und Energie sparen, werden wir besser damit umgehen können.

 

3.

Wenn wir lernen, integrierter zu denken und innovative Konzepte testen, werden wir stabiler und können als Destination bzw. als Betrieb den Wandel, der gerade stattfindet, besser auffangen und besser auf die Umweltveränderungen reagieren.

 

Die Veränderungen, die auf den Tourismus und alle Lebensbereiche zukommen, betrachtet Stefan Gössling nicht nur als Bedrohung. Für ihn sind die auch eine riesengroße Chance, um neu zu denken. Wer das macht, wird aus seiner Sicht viel flexibler und letztendlich ökonomische Vorteile genießen.  

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