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Ungenützte Chancen: Inklusion im Tourismus

Ungenützte Chancen: Inklusion im Tourismus
Katja Jast 24. April 2025

„Gehören wir denn nicht dazu?“

Diese Frage stellte ich mir oft während meines Jahres als ehrenamtliche Freizeitbegleitung für eine junge Frau im Rollstuhl. Schnell wurde mir klar: Es mangelt nicht nur an barrierefreien Zugängen, sondern auch an einem selbstverständlichen Miteinander. Wir mussten unsere Wege stets genau planen – welches Café hat eine Rampe? Wo gibt es eine zugängliche Toilette? Was mich dabei besonders beschäftigt hat, war nicht allein die fehlende Infrastruktur, sondern das Gefühl, nicht wirklich dazuzugehören. Viele Menschen wirkten verunsichert, Mitarbeitende in Restaurants oder Freizeiteinrichtungen oft überfordert. Dabei sollte es ganz normal sein, dass Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam am gesellschaftlichen Leben teilnehmen – ohne Erklärungen, ohne Rechtfertigungen, ohne Sonderstatus. ¹

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Gerade beim Reisen wurde der Planungsaufwand besonders spürbar. Immer wieder standen wir vor der Frage: Gibt es in diesem Hotel barrierefreie Zimmer? Kommt man mit dem Rollstuhl überhaupt in die Gondel? Die nötigen Informationen waren oft nur schwer auffindbar oder gar nicht vorhanden – was spontane Ausflüge oder entspannte Reisen fast unmöglich machte.

Dabei liegt gerade im Tourismus ein enormes ungenutztes Potenzial:

In der Europäischen Union leben rund 80 Millionen Menschen mit Behinderungen. Durch den demografischen Wandel wird dieser Bedarf in Zukunft noch steigen – laut WHO wird im Jahr 2050 weltweit jeder fünfte Mensch über 60 Jahre alt sein. Studien zeigen, dass etwa 70 % der Menschen mit Behinderungen in Europa sowohl physisch als auch finanziell in der Lage wären zu reisen – das entspricht rund 58 Millionen potenziellen Gästen. Ein Markt, der nicht nur gesellschaftlich relevant, sondern auch wirtschaftlich hochinteressant ist. ³

Und genau darüber möchte ich heute schreiben: über Inklusion im Tourismus. Warum wir mehr brauchen als bauliche Barrierefreiheit – und wie eine wirklich inklusive Reisewelt aussehen könnte.

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UN Behindertenrechtskonvention

Der Grundstein für Barrierefreiheit wurde eigentlich schon 2006 gelegt. Damals hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen die UN-Behindertenrechtskonvention (kurz: UN-BRK) beschlossen. In Deutschland gilt sie seit 2009. Wichtig dabei: Die UN-BRK schafft keine „Extra-Rechte“ für Menschen mit Behinderungen – sie macht einfach deutlich, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben. Dazu gehören zum Beispiel: selbstbestimmte Mobilität, Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Arbeit, politische Teilhabe – und natürlich Barrierefreiheit. Die Konvention sagt ganz klar: Teilhabe ist ein Menschenrecht, kein Akt der Gnade oder des guten Willens. Ein genauerer Blick auf die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in den VITALPIN-Mitgliedsländern Deutschland, Österreich, der Schweiz und Südtirol zeigt, dass sie trotz politischer Bekenntnisse oft unverbindlich, lückenhaft und langsam erfolgt – insbesondere in den Bereichen Bildung, Barrierefreiheit, Partizipation und Arbeitsmarkt. Statt struktureller Veränderungen dominiert vielerorts symbolische Politik, während echte Inklusion und Teilhabe weiterhin an fehlenden Standards, Ressourcen und gesellschaftlichem Bewusstsein scheitern. ²            

Ein entspannter Hotelaufenthalt beginnt für viele mit ein paar Klicks – Buchung, Anreise, einchecken, wohlfühlen. Für andere jedoch ist genau das eine Herausforderung: Gibt es barrierefreie Toiletten? Ist das Zimmer rollstuhlgerecht? Wie finde ich mich als sehbeeinträchtigte Person im Gebäude zurecht?

Damit wirklich alle Menschen reisen und genießen können, braucht es mehr als nur einen Rampe am Eingang. Ein inklusives Hotelangebot denkt weiter – und schafft Räume, in denen sich jeder willkommen, sicher und wertgeschätzt fühlt. Barrierefreiheit hat viele Gesichter. Sie beginnt bei der baulichen Gestaltung – etwa durch stufenlose Zugänge, breite Türen und rollstuhlgerechte Badezimmer – und reicht bis hin zu Informationen in einfacher Sprache oder akustischer Unterstützung für sehbeeinträchtigte Menschen. Ein paar Beispiele:

  • Für Gäste mit körperlichen Einschränkungen sind angepasste Zimmer, Aufzüge und gut erreichbare Einrichtungen entscheidend.
  • Sehbeeinträchtigte Reisende profitieren von klaren Kontrasten, tastbaren Leitsystemen und Audioguides.
  • Menschen mit Hörbeeinträchtigung benötigen Induktionsschleifen, Untertitel oder Gebärdensprachdolmetscher.
  • Auch ältere Gäste freuen sich über klare Beschilderung, Sitzgelegenheiten und verständliche Kommunikation. ⁴

Wer barrierefrei denkt, denkt nicht nur an bauliche Maßnahmen, sondern an den Menschen. Und genau das macht den Unterschied. Im Alpenraum gibt es viele inspirierende Beispiele von Hotels, Restaurants und Destinationen, die echte Zugänglichkeit ermöglichen. Eines davon ist das Hotel Weisseespitze im Kaunertal – ein Haus, das zeigt, wie Inklusion im Tourismus mit Herz, Weitblick und echtem Engagement gelebt werden kann. Bereits auf der Website erhält der Gast einen transparenten Überblick über die barrierefreien Angebote. Das Hotel bietet ausreichend Platz für alle – ohne Kompromisse.⁵

Charly Hafele - Hotel Weisseespitze im Kaunertal

Charly Hafele - Hotel Weisseespitze im Kaunertal

"1991 begannen wir unser Hotel rollstuhlgerecht zu adaptieren – über die Jahre haben wir ein Haus geschaffen, das keine Handicaps mehr kennt. In der Weisseespitze stoßen Sie an der längsten Rolli-Bar Tirols auf den Urlaub an und erleben uneingeschränkten Zugang zu einer der ursprünglichsten Gebirgslandschaften Tirols."

Auch die umliegende Naturpark- und Gletscherregion Kaunertal geht mit gutem Beispiel voran: Sie ermöglicht Berg-Erlebnisse bis auf 3.000 Meter – für alle, unabhängig von Alter oder körperlichen Voraussetzungen. Ob barrierearme Wanderwege, kinderwagentaugliche Pfade, rollstuhlgerechte Ausflugsziele oder inklusive Wintersportangebote wie Sit-Ski-Langlauf und Monoskikurse – hier wird Zugang zur Natur neu gedacht und gelebt. Auch Regionen wie das Alpbachtal, die Region um den Achensee oder die Stadt Innsbruck setzten bereits viele Konzepte um, um das Reiseerlebnis inklusiver zu gestalten.

Damit Barrierefreiheit im Tourismus erfolgreich umgesetzt werden kann, braucht es eine ganzheitliche Herangehensweise. Dazu gehören:

  1. Schulung des Personals: Mitarbeitende sollten im Umgang mit Menschen mit Behinderungen geschult werden, um Servicequalität und Verständnis zu verbessern.
  2. Anpassung der Infrastruktur: Gebäude und Einrichtungen müssen zugänglich gestaltet werden, mit Rampen, Aufzügen und barrierefreien Toiletten.
  3. Bereitstellung von Informationen: Websites und Buchungsplattformen sollten klare Angaben zu barrierefreien Angeboten enthalten.
  4. Einsatz technologischer Hilfsmittel: Barrierefreie Apps, Audioguides und Online-Buchungssysteme können das Reiseerlebnis verbessern.
  5. Feedback einholen: Regelmäßiges Feedback von betroffenen Reisenden hilft, Schwachstellen zu identifizieren und Verbesserungen umzusetzen. ⁶
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Wer macht sich stark für mehr Inklusion?

Seit über 35 Jahren kämpft Marianne Hengl für eine Gesellschaft, in der Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt sind. Sie bringt mit RollOn Austria immer wieder neue Impulse in die gesellschaftliche Diskussion rund um Inklusion ein – auch im Tourismus. So initiierte sie beispielsweise gemeinsam mit dem Hotel Weisseespitze in Tirol ein ganz besonderes Projekt: das weltweit erste Denkmal für das behinderte Leben – ein leuchtender Engel mit nur einem Flügel. Obfrau Marianne Hengl sagt über das Denkmal:

„Dieser Engel ist das erste Denkmal für das behinderte Leben weltweit. Ein Symbol für das nicht perfekte Leben. Es lohnt sich, diesen Engel ganz genau zu betrachten. Unser Engel hat einen scheinbaren Makel: Er hat nur einen Flügel – an jener Stelle, wo der zweite Flügel fehlt und somit seine Behinderung sichtbar wird, leuchten viele Lichter; denn dieses Denkmal steht als Zeichen dafür, dass behinderte Menschen genauso kostbar wie alle anderen Menschen sind. Obwohl der perfekte Schliff fehlt, leuchtet der innere Mensch facettenreich mit jedem schönen Mosaiksteinchen seines Wesens. Jeder Mensch ist anders – auch behinderte Menschen kann man erst kennenlernen, wenn man sich die Zeit nimmt, sie unvoreingenommen von verschiedenen Seiten zu 'beleuchten'.“

Vitalpin hat sie besucht, um mehr darüber zu erfahren, wie sich unser Bild von Behinderung verändern muss. Anbei das Interview:

ÜBER DIE AUTORIN

ÜBER DIE AUTORIN

Katja Jast hat ihre Leidenschaft für die Alpen zu ihrem Beruf gemacht und ist seit 2024 Teil von VITALPIN. In ihrer Rolle unterstützt sie die Umsetzung von Projekten, die nachhaltigen Tourismus im Alpenraum fördern. Auf dem VITALPIN-Blog schreibt sie über aktuelle Themen und Trends, die die Branche bewegen, und lädt zum Dialog über die Zukunft des alpinen Tourismus ein.

Vitalpin